Wir sind Zukunft!

Unsere Initiative hat den Zukunftspreis 2016 der Stadt Augsburg erhalten. Neben fünf anderen Preisträger*innen wurden wir am 28. Oktober durch Bürgermeister Stefan Kiefer und Nachhaltigkeitsreferent Reiner Erben gewürdigt.

Hier unsere Bewerbung:

Die VOLLDABEI-Kulturwerkstatt wurde 2013 von Susanne und Holger Thoma als mobiler, offener, interkultureller Lern- und Arbeitsort mit Reparatur- und Kreativaktivitäten in Asylunterkünften oder Jugend- und Stadtteilzentren gegründet. Vielfältige nachbarschaftliche Aktionen wie Möbel oder Fahrräder reparieren, Kochen, Nähen, Gärtnern, Malen oder Radfahrenlernen tragen seither zu einem Abbau von Integrationsbarrieren bei und fördern Offenheit, Toleranz und Akzeptanz gegenüber Flüchtlingen. Die mobile Kulturwerkstatt ist tageweise oder auch für einen längeren Zeitraum an verschiedenen Orten im Einsatz, wobei alle Materialien mit Fahrrädern und Anhängern transportiert werden. Immer wieder stellt die Initiative den Kontakt zwischen Asylsuchenden und der sogenannten Mehrheitsgesellschaft her. Dabei orientiert sie sich vor allem an der Zukunftsleitlinie „Vielfalt leben und die Kultur des Friedens und das Miteinander der Religionen weiter entwickeln.“

Eine ganz besondere Aktivität war das VOLLDABEI Kunst-CAMP in der Asylunterkunft Calmbergstraße von Herbst 2015 bis Frühjahr 2016. NachbarInnen, KünstlerInnen und AsylbewerberInnen kamen zusammen, um zumindest einem Teil des 150 Jahre alten Gebäudes einen neuen Anstrich zu verpassen, das 40 Jahre lang nur als Provisorium zur Unterbringung von Geflüchteten betrachtet wurde. In 1.450 Arbeitsstunden haben die rund 60 Beteiligten 1.100 m2 Wände, Fußböden, Fenster und Türen instand gesetzt und die langen Flure mit riesigen Wandbildern verziert. Auch gemeinsames Kochen und Essen gehörte zum Konzept, wobei das DHB Netzwerk Haushalt tatkräftig unterstützt hat. Viele AugsburgerInnen wagten sich erstmals in eine Asylunterkunft. Besonderer Gast war Bischof Konrad Zdarsa, der das überaus große Engagement lobte und beeindruckt davon war, wie viel mit wenigen Mitteln erreicht wurde.

Nachbarn spendeten Werkzeug und Material, so dass viele Dinge einer neuen Verwendung zugeführt werden konnten. Weitere Sachspenden und auch finanzielle Unterstützung kamen von Firmen und der Stadt Augsburg.

Den Abschluss des Kunst-CAMPs bildete eine Ausstellung mit den entstandenen Wandbildern, ergänzt mit Arbeiten von renommierten KünstlerInnen. Die Presse hat zunehmend positiv über die Bewohner und das Haus berichtet, das nun als „Buntes Haus“ und nicht mehr als armseliger Ort wahrgenommen wird.

Begründung der Jury Zukunftspreis (Hermann Stuhler, Nachhaltigkeitsbeirat, Bündnis für Augsburg)

Die Inspektoren der Feuerwehr, die im Juni 2016 im Augsburger Theater derart gravierende Mängel erkannten, dass sie die sofortige Schließung anordnen mussten, handelten vermutlich pflichtgemäß. Einen knappen Kilometer weiter südlich hätten sie mit größter Wahrscheinlichkeit ein Gebäude vorfinden können, bei dessen Inspektion sie wohl ebenfalls hätten tätig werden können oder sogar müssen, um zumindest dringenden feuerschutztechnischen Handlungsbedarf, wahrscheinlich sogar eine sofortige Schließung auch dieses Gebäudes anordnen zu müssen. Was hat das nun mit dem Augsburger Zukunftspreis zu tun? Die hier zu belobigenden Preisträger können aus dem Fenster ihres Wohnhauses, einem schön renovierten Altbau im Antonsviertel, direkt beobachten, was sich in einem Gebäude in der Calmbergstraße abspielt. Die frühere Hindenburgkaserne, schon seit Jahrzehnten umgenutzt als sog. Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge und Asylbewerber, ist nicht nur äußerlich ein städtebaulicher Schandfleck. Viel schlimmer ist ein Zustand der sanitären und elektrischen Installationen im Inneren, der bei jeder deutschen Jugendherberge oder anderen Gemeinschaftsunterkunft zur sofortigen Schließung führen würde und müsste. Etwa 100 Männer, alle aus Gegenden dieser Welt, in denen ein menschenwürdiges Leben in unserem Sinne kaum möglich ist, müssen in dem eben beschriebenen Gebäude, also der GU-Calmbergstraße, oft viele Monate ausharren, bis sie endlich erfahren, wie es mit ihnen, so oder so, weiter gehen soll. Das Ehepaar Susanne und Holger Thoma hatte seinen Lebensmittelpunkt aus Berlin nach Augsburg verlegt, weil ihnen die Stadt so gut gefiel. Schon in Berlin hatten sie sich als studierte Politologen sozial-praktisch engagiert und brachten dieses „Sozial-Gen“ natürlich auch mit nach Augsburg. Und so war es nahe liegend, dass sie das, was sie da in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft beobachten mussten, recht schnell aktiv werden ließ.

Exkurs: Wenn Goethe seinen Faust im Studierzimmer bei dessen Bibelübersetzungsversuch zweifeln lässt, ob denn aller Anfang das „Wort“ sein könne, oder etwa der „Sinn“ oder die „Kraft“, sondern dass es, im Vers 1237, vielmehr heißen müsse: „Am Anfang war die Tat“ (Ende des Exkurses), so kann das Verhalten unserer Preisträger durchaus als die konkrete Umsetzung von Goethes Idee verstanden werden. Und sie schritten schnell zur Tat. Sie besorgten sich aus einem Baumarkt Wandfarbe, Pinsel und Eimer, um Farbe an die tristen Wände zu bringen, aber auch Spatel und Drahtbürsten, um zentimeterdicke Dreckschichten von Fensterbrettern, Fußleisten und Heizkörpern abzukratzen, selbstverständlich unter freiwilliger tätiger Mithilfe einiger Bewohner des Gebäudes. Und siehe da, es dauerte nicht lange, und andere Bewohner, diesmal aus den benachbarten Wohnhäusern, gesellten sich dem ungewohnten Tun bei, ohne viel Werbung und Aufforderung, sondern lediglich animiert durch das tätige Vorbild. Susanne und Holger Thoma gründeten das Projekt „Volldabei“ und wollen es verstanden wissen als „mobile Kunstwerkstatt“. Die großen Wandbilder, von künstlerisch begabten Bewohnern der GU gestaltet, inzwischen aber großenteils, aus welchen Gründen auch immer, wieder entfernt bzw. überstrichen, wurden als „Dokumente des Augenblicks“ einer größeren Öffentlichkeit präsentiert in einer Ausstellung im Kulturpark „Abraxas“ und in einer beeindruckenden Broschüre. Mindestens genauso integrativ wirksam ist aber auch eine andere Idee unseres Preisträgerpaares. Mit einem einfachen Werkzeugkasten und einem natürlichen technischen und handwerklichen Geschick ist Holger Thoma mit Bewohnern der GU-Calmbergstraße unterwegs, um eine „mobile Fahrradwerkstatt“ zu betreiben. Sie funktioniert nach seinen Worten einfach und überall, kultur- und sprachunabhängig und in jeder Hinsicht nachhaltig und für die Bewohner der GU sinnstiftend. Susanne Thoma bietet Flüchtlingsfrauen Fahrradkurse an, nicht zuletzt auch, um diesen oft unter noch schwereren Bedingungen als die Männer lebenden Frauen eine Option der Befreiung zu vermitteln. Wenn sie dann von einer erstmals Rad fahrenden Teilnehmerin zu hören bekommt, dies sei ja „wie Schweben“, ist dies diese Art von Anerkennung, von der jeder freiwillige Helfer träumt. Das Ehepaar Thoma zeigt mit den künstlerischen und praktisch-handwerklichen Aktionen des Projekts „Volldabei“ auf vorbildliche und exemplarische Weise, wie persönliches Engagement in Form von eigeninitiativ gestaltetem Handeln, oft auch unter Umgehung bürokratischer Hürden, für andere als Modell und somit geradezu ansteckend wirken kann. Für die eigentlich Betroffenen sind sie aber in vielfacher Hinsicht hilfreich, lebensbereichernd und wertvoll. Wir gratulieren dem Ehepaar Susanne und Holger Thoma zum Gewinn des Augsburger Zukunftspreises 2016.

Beitrag zu Zielen des Handlungsprogramms

  • Ökologische Zukunftsfähigkeit » A2. Energie- und Materialeffizienz verbessern » Ziel 2: Kreislaufprozesse und Wiederverwertung stärken
  • Soziale Zukunftsfähigkeit » B4. Allen die Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen » Ziel 1: Diskriminierung und Barrieren in allen Lebensbereichen erkennen und abbauen
  • Soziale Zukunftsfähigkeit » B5. Sozialen Ausgleich schaffen » Ziel 2: Menschen in besonderen Lebenslagen unterstützen
  • Kulturelle Zukunftsfähigkeit » D3. Vielfalt leben » Ziel 4: Kultur des Friedens und das Miteinander der Religionen weiterentwickeln
  • Kulturelle Zukunftsfähigkeit » D5. Kunst und Kultur wertschätzen » Ziel 2: Kunst, Kultur und Geschichte Raum geben